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Bisherige Forschung

                 Kaum einer der hier angesprochenen Aspekte wird in der modernen Literatur zu Frontaldarstellungen
                 auf Münzen berücksichtigt. Die Forschungslage hierzu ist ohnehin recht dürftig: Die letzte Monographie
                 zu frontalen Münzbildern erschien im Jahr 1979, und danach streifte allenfalls eine Handvoll von Aufsät-
                 zen das Sujet.
                 Wirkmächtig war lange Zeit das von dem 1896 verstorbenen dänischen Kunsthistoriker Julius Lange
                 formulierte „Gesetz der Frontalität“. Es beruht hauptsächlich auf Beobachtungen an der ägyptischen
                 und griechisch-archaischen Skulptur, behauptete aber eine Geltung nicht nur für sämtliche Kulturen des
                 Mittelmeerraums, sondern auch für die amerikanischen Kulturen vor deren Zerstörung durch Europa.
                 Die Zeit vor 500 v. Chr. (für Kleinasien sogar vor dessen Eroberung durch Alexander) sei demnach die
                 „Einleitungszeit“, durchgängig geprägt von „les mêmes traits d‘impérfection et les mêmes limites étro-
                 ites“ in der Darstellung der menschlichen Gestalt. Diese „primitive“ Darstellungsweise sei beschreibbar
                 als Frontalität, womit Lange Skulpturen und Reliefs meinte, die auf die Vorderansicht ausgerichtet sind
                 und von größter Symmetrie gekennzeichnet sind.
                 Obwohl Langes Behauptung jeder Evidenz spottet (die Kunst des Paläolithikums kennt die Frontalität
                 allenfalls in der Plastik, und die Reliefs des Alten Reiches sind weniger stark frontal ausgerichtet als die
                 der späteren ägyptischen Perioden) und sehr bald komplexere Beschreibungen sog. primitiver Plastik
                 vorgeschlagen wurden,  die sowohl eine genauere Analyse als auch präzisere Einordnungen zuließen,
                 prägte Langes „Gesetz” sowohl die Kunstgeschichte als auch die Archäologie bis weit nach dem Ende des
                 Zweiten Weltkriegs. Zu reizvoll war es für die geistige Elite der Kolonialmächte, sowohl „Naturvölkern“
                 oder „Orientalen“ als auch deren Kunst „quelque chose de bestial“ zuzuschreiben, zu verführerisch die
                 Möglichkeit einer mühelosen Kategorisierung in Ost/West oder früh/spät.
                 Eine differenzierte und produktivere Sicht auf die Frontalität entwickelte sich dort, wo aufgrund des
                 kleineren Formats kein direkter Bezug auf Lange sinnvoll erschien. Eine erste systematische Beschäf-
                 tigung mit dem „Heraussehen der Figuren aus dem Rahmen des Bildes“, also der Frontalität in zwei-
                 dimensionalen, tendenziell auch kleinformatigen Kunstgattungen, findet sich in der „Urgeschichte der
                 bildenden Kunst“ von Moritz Hoernes. Darin bietet der Wiener Prähistoriker eine sehr feinsinnige Zu-
                 sammenstellung von Frontaldarstellungen auf griechischen Vasen. Als entscheidendes Charakteristikum
                 macht Hoernes bei seiner Analyse der Frontalität die „Bildung der Augen“ aus, die einen „faszinierenden
                 Eindruck“ erweckt. Da die Frontalität auf den schwarzfigurigen Vasen recht selten, auf den älteren rot-
                 figurigen immer noch nur sporadisch zum Einsatz kommt, kann Hoernes jeweils „vollkommen klare(n)
                 und deutliche(n) Gründe(n)“ dafür benennen. An die Seite solcher Detailstudien traten nach dem 2.
                 Weltkrieg interdiziplinäre, diachrone Studien wie „Die Dämonie des Blickes“ des Kunsthistorikers Dago-
                 bert Frey, deren Ausgangspunkt die Wirkung des Blicks ist und die einer differenzierteren und weniger
                 vorurteilsbehafteten Sichtweise auf die Frontalität die Bahn brachen. Der französische Universalgelehrte
                 Jean Paris schließlich nutzte als Erster die Analyse des Blicks, um in der Kunst neue Bedeutungsebenen zu
                 erschließen. In seiner Studie „L’espace et le regard“ führte er eine Reihe „klassischer“ Werke der Malerei
                 einer Strukturanalyse zu, deren Ausgangspunkt jeweils die Blicke der Dargestellten sind. Weder diese Ar-
                 beit noch die Methode fand größere Resonanz in den Kulturwissenschaften.
                 Die Archäologie hingegen beschäftigte lange vorwiegend die Frage nach der Herkunft der Frontalität.
                 Heute beschränkt sie sich weitgehend darauf, anhand von Frontalität Objekte zu klassifizieren (bspw.
                 Ost/West, Volkskultur/Hochkultur), wobei anzumahnen ist, dass man mit derartigen Zuschreibungen
                 leicht ins Fahrwasser Langes gerät und Gefahr läuft, Orientalismus-Klischees zu bedienen.
                 Die numismatische Forschung zu Frontaldarstellungen bewegt sich weitgehend in den Bahnen des archä-
                 ologischen Diskurses. Auch wenn sich durchaus luzide Detailbeobachtungen finden (fast immer dann,
                 wenn Bezug auf die antike Literatur genommen wird – was selten der Fall ist), ist die Numismatik nicht
                 minder stark geprägt von modernen, wirkungsästhetischen Mutmaßungen, verbunden mit teils uralten
                 Stereotypen.





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