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Die Wirkung des Blicks

                   Erst, wenn man erkennt, wie wichtig die Darstellung der Augen ist, kommt man der antiken Sichtweise
                   auf das Phänomen auf die Spur. Noch heute kennen wir aus der zeitgenössischen Literatur, aus Dichtung,
                   Kino und Poplyrik die aufwändigsten Beschreibungen der Schönheit menschlicher Augen und der Inten-
                   sität unserer Blicke, wenn wir uns in gewissen Gemüts- und Geistesverfassungen befinden. Doch dies ist
                   nur ein schaler Abglanz dessen, was antike Menschen, wesentlich sensibler für Details, in den Augen zu
                   erkennen imstande waren. Nicht nur die Gorgone Medusa konnte durch ihren Blick alles und jeden töten
                   (genauer: versteinern lassen), sondern auch Zeus besaß einen feurigen Blick, mit dem er Dinge lenken
                   (und zerstören) konnte und dem nichts auf Erden entging – und er vererbte diese Eigenschaft an die
                   meisten seiner Abkömmlinge, wie wir beiläufig aus der Bibliothek des Apollodor erfahren.

                   Auch die Gefährlichkeit von Raubtieren wie Löwen beruhte nicht allein auf ihren scharfen Klauen und
                   Reißzähnen, sondern sie spiegelte sich auch in ihrem Blick, der ebenfalls als „feurig” bezeichnet wurde
                   und mit dem sie ihre Opfer bereits vor der direkten Berührung entscheidend schwächen konnten. Und
                   selbst einige Menschen hatten besonders eindringliche Augen. So ist von Augustus überliefert, dass er es
                   liebte, wenn jemand seinem Blick nicht standhalten konnte, weshalb Sueton seinem Blick eine innewoh-
                   nende göttliche Kraft zusprach (inesse quidam divini vigoris, Aug. 79,3), und ein Lobredner schwärmte
                   vom strahlenden Ganz der Augen Constantins des Großen (Pan. lat. VI/VII, 17,1).

                   Derlei  Zeugnisse  finden  sich  bei  den  antiken
                   Schriftstellern in großer Zahl, und sie beruhen alle
                   auf einer Annahme, die moderne Menschen sich
                   zunächst einmal bewusst machen müssen: Wäh-
                   rend es für uns Heutige selbstverständlich ist, dass
                   das Auge ein rezeptives Organ ist, das Lichtstrah-
                   len aufnimmt, war es für die Alten genau umge-
                   kehrt: Für sie bedeutete Sehen ein aktives Aussen-
                   den  von  Sehstrahlen.  Die  Mehrheit  der  antiken
                   Gelehrten  betrachtete  das  Auge  als  ein  Organ,
                   das  Lichtstrahlen  produzierte,  um  mit  ihnen  die
                   Umwelt geradezu abzutasten (dazu grundlegend:   Eines der wenigen bildlichen Zeugnisse der Sehstrahlen-
                   Simon 1992).                              theorie: Fresko aus dem Mithräum von Marino  2./3. Jhdt. n. Chr.
                                                                 Die Sehstrahlen des Sol (oben links) treffen Mithras.
                   So macht Galenus konkrete Angaben, wie sich ein
                                                                            Foto: F. Haymann
                   „Sehkegel” berechnen lässt:  „Wenn Löwen, Leo-
                   parden und andere Tiere, deren Auge ausreichend leuchtet, nachts ihre Pupille zur Nase hin drehen, sieht
                   man einen Lichtkreis darauf erscheinen, so dass man berechnen kann, dass der Lichtkreis den Betrag
                   misst, um den sich der Sehkegel im Abstand von der Pupille vergrößert hat, wobei die Größe des Kreises
                   proportional zur Entfernung von der Pupille ist.” (Gal. de plac. Hipp. et Plat. p. 613).
                   Erst die neuzeitliche Optik eines Johannes Kepler, entstanden unter dem Einfluss arabischer Physiker,
                   verhalf dem modernen Verständnis vom Sehen als eines rezeptiven Vorgangs zum Durchbruch. Davon
                   unberührt blieben indes bis in die jüngere und jüngste Vergangenheit abergläubische Vorstellungen vom
                   „Bösen Blick” bis hin zum Blickzauber. Dieses antike Verständnis vom Sehen ist am ehesten mit unserer
                   Rede vom „stechenden” oder „penetranten” (also: „durchdringenden“) Blick vergleichbar und lässt sich
                   im Alltag nachempfinden, wenn man spürt, dass einen Blicke regelrecht „durchbohren”, oder dass man
                   einen Blick auf sich ruhen fühlt, ohne jedoch sofort den Beobachter zu entdecken.









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